L. H. Heiss: Jung, weiblich, jüdisch – deutsch?

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Titel
Jung, weiblich, jüdisch – deutsch?. Autofiktionale Identitätskonstruktionen in der zeitgenössischen deutschsprachig-jüdischen Literatur


Autor(en)
Heiss, Lydia Helene
Reihe
Poetik, Exegese und Narrative (15)
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kristina Omelchenko, Institut für Slavistik, Universität Hamburg

In ihrer Monographie beschäftigt sich Lydia Helene Heiss mit drei Romanen: Lieber Mischa (2011) von Lena Gorelik1, Vielleicht Esther (2013) von Katja Petrowskaja2 und Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012) von Olga Grjasnowa.3 Die titelgebenden Adjektive „jung, weiblich, jüdisch – deutsch“ dienen der Forscherin als Kriterien für die Textauswahl und leiten ihre Forschungsfrage an: Wie positionieren sich in und zu Deutschland eingewanderte Autorinnen der neuen jüdischen Literatur deutscher Sprache? Heiss zufolge gehören sie alle zur sogenannten dritten Nachkriegsgeneration und konstruieren in ihren Texten autofiktionale jüdisch-weibliche Identitäten.

Den Begriff „Generation“ versteht Heiss nicht nur als Altersgruppe, sondern im Mannheimschen Sinne auch durch gemeinsame Erlebnisse konstituiert. In der Studie handelt es sich um Erfahrungen der Migration aus der ehemaligen Sowjetunion, die alle jungen Schriftstellerinnen teilen. Laut Heiss unterscheidet sich dabei die dritte Generation dieser Migrant:innen von den ersten beiden besonders in ihrem Verhältnis zu Deutschland. Da diese Autor:innen der dritten Generation sowohl zeitlich als auch familiengeschichtlich eine größere Distanz zum Holocaust haben, sehen sie ihn selbst nicht mehr als „Fix-, Dreh- und Angelpunkt“ (S. 10) ihrer Geschichten an. Dementsprechend ist ihnen auch daran gelegen, von der Mehrheitsbevölkerung nicht auf diese Thematik reduziert zu werden. Stattdessen bemühen sie sich darum, ein Verhältnis zu Deutschland zu postulieren, das durch andere Faktoren geprägt ist, und möchten damit zur „Normalisierung“ des jüdischen Lebens beitragen. In der Liebeserklärung, die die Protagonistin in Lena Goreliks Roman an Deutschland richtet, sieht Heiss diesen Wunsch besonders deutlich zum Ausdruck gebracht. Von diesem Textbeispiel ausgehend untersucht sie die anderen Romane ihres Korpus auf ähnliche Konstellationen.

Die Generationenfrage behandelt Heiss in einem einführenden Teilkapitel und später im Text fügt sie Beispiele von Autor:innen, Texten und Definitionen der älteren Generation hinzu, um die Änderung in Positionierung zu Deutschland zu zeigen. Insgesamt ist es Heiss gut gelungen, die Komplexität des Generationenbegriffs zu erläutern, wenngleich man sich wünschen könnte, dieses Thema wäre in einem Kapitel kohärenter behandelt worden.

Auch bei den anderen titelgebenden Zuweisungen bemüht sich Heiss darum, ihren Facettenreichtum zu zeigen. Sie bezieht sich auf das Konzept der Intersektionalität, jedoch nicht in Bezug auf etwaige Diskriminierungserfahrungen der Autor:innen, sondern als Denkfigur, die eine multiperspektivische Darstellung von Identitätskonstruktionen erlaubt (S. 31). Deutlich wird das, wenn Heiss beschreibt, wie die Identitäten von Protagonistinnen konstruiert werden. Diese Konstruktionen stellen jeweils einen Schnittpunkt zwischen Geschlechterrolle, Transnationalität und Zugehörigkeit zum Judentum dar und weisen, so die These von Heiss, Zeichen des autofiktionalen Erzählens auf.

Um die autofiktionale Natur der Texte zu bestätigen, arbeitet die Wissenschaftlerin sowohl textintern als auch mit Paratexten (Klappentexte, Interviews, Sekundärliteratur u.ä.) und vergleicht die Eckdaten aus diesen Quellen. Heiss schlussfolgert daraus, dass alle Texte autobiographische Bezüge aufweisen, wenn auch in unterschiedlichen Formen. Um allen Erscheinungen der Selbstreferenzen gerecht zu werden, bedient sie sich des Begriffs der Autofiktion, der von Serge Doubrovsky geprägt wurde. Dieser Begriff eignet sich nach Heiss für ihre Untersuchung insofern, als er eine unzertrennliche Mischung von Fakten und Fiktionen beschreibt. Heiss geht auf die Frage ein, welche Formen Autofiktion in analysierten Primärtexten annehmen kann und welche Funktionen sie hat. Der Text von Lena Gorelik ist ihrer Argumentation zufolge exemplarisch für eine Form von Autofiktion, die sehr nah an die Autorinnenbiographie angelegt ist. Der Lejeunesche autobiographische Pakt ist hier erfüllt, denn sowohl die Namen stimmen überein als auch biographische Angaben (Mutterschaft, Migrationsgeschichte etc.). Während in Petrowskajas Text Namensgleichheit und biographische Angaben ebenfalls gegeben sind, sieht Heiss im Vergleich zu Gorelik einen reflexiveren Umgang mit der Fiktion. Petrowskaja entlarvt selbst eigene Fantasien und hinterfragt offen, ob eine faktische Erzählung ohne eine „Prise Dichtung“ (KP, S. 219) möglich ist. Anschließend zeigt Heiss, dass man den Begriff Autofiktion auch auf Texte erweitern kann, die auf den ersten Blick nicht dazu gehören, wie im Fall von Grjasnowas Text. Nicht nur wird dort die Namensgleichheit nicht erfüllt, sondern die Autorin selbst leugnet die Identität mit ihrer Protagonistin (S. 177 u.a.). Mithilfe der Auslegungen von französischen Literaturtheoretikern (S. 172ff.) weist Heiss nach, dass die Lektüre dieses Romans als autofiktionaler Text möglich und fruchtbar sein kann. Diese Interpretation von Heiss leistet einen wichtigen Beitrag für das Weiterdenken einer Theorie der Autofiktion in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft. Was laut Heiss für alle untersuchten Texte und Identitätskonstruktionen zutrifft, ist die Funktion der Autofiktion, gleichzeitig Nähe und Distanz zwischen Autorinnen und Protagonistinnen zu erzeugen, sowie die künstlerische Freiheit, in einen fiktionalen Text eigene Erfahrungen, Einsichten, Wünsche zu integrieren.

Besonders interessant erscheinen die Zusammenhänge zwischen dem Genderaspekt und dem autofiktionalen Schreiben. Heiss zufolge hat sich „Autofiktion […] im französischen Raum als Genre für weibliche Migrationsliteratur etabliert“ und behandelt die dafür typischen Themen, wie Entwurzelung, Diskontinuität, Suche nach eigener Stimme u.a. (S. 244). Das verdeutlicht für Heiss die bis jetzt wenig erforschte Interdependenz zwischen weiblichen Identitäten, autofiktionalem Schreiben und Trauma und spricht für emanzipatorische und therapeutische Funktionen des Genres. Das könnte für die von Heiss behandelten Romane ebenfalls ein produktiver Ansatz sein; die Forscherin entscheidet sich aber dafür, dieses Thema nicht auszuführen, sondern es als Anknüpfungspunkt für weitere Forschung offen zu lassen.

Stattdessen geht Heiss auf die Frage ein, inwiefern Gender und die jüdische Identität zusammenhängen. Auch da zeigt sich Heiss‘ intersektionaler Zugang: Beide Kategorien sind miteinander verwoben und nicht separat zu denken. In jeder Protagonistin zeigt sich diese Verbindung auf eine besondere Art und Weise, was zum heterogenen und pluralen Bild der jüdischen weiblichen Stimmen beiträgt. So hebt Heiss hervor, dass bei Gorelik ihre eigene Mutterschaft sie dazu bewegt, sich auch als Autorin mit ihrer Rolle als Jüdin auseinanderzusetzen und den Romantext als einen fiktiven Brief an den Sohn zu adressieren. Im Falle Petrowskajas bezieht sich Heiss auf das Prinzip der Matrilinearität im Judentum, nach dem die Protagonistin ihre jüdische Identität an ihre Tochter weitergibt. Grjasnowa verzichtet in ihrem Roman auf traditionelle Genderzuschreibungen. Dafür bietet Bisexualität, Heiss zufolge, neue Interpretationsmöglichkeiten. Sowohl die Mehrsprachigkeit der Protagonistin als auch ihre sexuelle Orientierung hinterfragen die festgeschriebenen Grenzen und betonen ihre transnationale Identität.

Transnationalität, die Heiss als Mehrfachzugehörigkeit ansieht, verbindet sie vor allem mit den Einwanderungsgeschichten der Autorinnen. Ihre nationalen Zugehörigkeitsgefühle bewegen sich zwischen Deutschland und ihren Herkunftsländern. Auch das Judentum stellt einen Referenzpunkt dar, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass es in der Sowjetunion nicht als Religion, sondern als Nationalität verstanden wurde. Dabei könnte die Position jüdischer Identität im Transnationalitätsdiskurs noch geschärft werden. Bei der Überlegung von Heiss, ob es sich bei Gorelik um „[t]ransnationale und/oder exklusive jüdische Identität“ (LH, S. 77) handle, könnte man sich fragen, ob jüdische Identitäten (in der Diaspora) nicht per se transnational sind.

Mit ihrer Arbeit knüpft Heiss an die aktuellen Debatten um die „Normalisierung“ des jüdischen Lebens in Deutschland an. Kritisch zu hinterfragen ist dabei freilich, wieso Heiss unter den ersten Stimmen für die „Normalisierung“ ausgerechnet die Äußerungen von Martin Walser in seiner Debatte mit Ignatz Bubis anführt (S. 14), die nicht nur nicht aus jüdischer Perspektive stammen, sondern obendrein als antisemitisch wahrgenommen wurden, was sie jedoch unerwähnt lässt. Dennoch stellen die meisten Stimmen, denen Heiss in ihrer Studie die Bühne gibt, diese Bestrebungen nach Normalisierung aus der jüdischen Perspektive dar.

Zusammenfassend bietet die Studie von Heiss einen wichtigen Beitrag zum Forschungsfeld jüdischer Literaturen. Die Vielzahl der thematischen Schwerpunkte im Text mag überwältigend erscheinen und verhindert, auf alle Themen ausführlich einzugehen. Dadurch schafft es die Forscherin jedoch, intersektionale Überschneidungen, deren Verbundenheit und Interdependenz zu illustrieren. Es werden am Beispiel der untersuchten Texte unterschiedliche Lebensentwürfe analysiert: sowohl ein religiöses Judentum als auch ein säkulares, das sich durch andere Merkmale als jüdisch identifiziert. Da in der Studie viele Sichtweisen, Perspektiven, historische und transnationale Einblicke zu finden sind, gelingt es Heiss, zu zeigen, dass es viele jüdische Stimmen gibt, die sich nicht auf Themen wie Holocaust, Antisemitismus, Israel beschränken lassen. Sie schreiben nicht nur aus jüdischer, sondern auch aus (post-)migrantischen Perspektiven und setzen sich sowohl mit anderen nationalen Geschichten als auch mit unterschiedlichen Lebensrealitäten auseinander. Es gelingt Lydia Heiss, nicht nur die Komplexität des Begriffs deutsch-jüdische Literatur zu zeigen, sondern auch ein Bild der jüdischen Diversität in Deutschland festzuhalten.

Anmerkungen:
1 Lena Gorelik, Lieber Mischa, München 2011.
2 Katja Petrowskaja, Vielleicht Esther. Geschichten, Berlin 2014.
3 Olga Grjasnowa, Der Russe ist einer, der Birken liebt, München 2012.

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